Jede unserer jungen Generation sieht sich mit der Aufforderung durch die Gesellschaften konfrontiert, nicht in der Erinnerung zu verharren. Bleibt nicht in der Erinnerung, heißt es. Schaut nach vorne! Ihr könnt doch nicht immer im Gestern leben. Aber leben wir mit der Erinnerung tatsächlich in einem „Gestern“? Und was heißt es eigentlich, von „Erinnerung“ zu sprechen? Was bedeutet es überhaupt, wenn wir dieses „Gestern“ sagen?

Wir gedenken heute den Ermordungen, wir gedenken der Verschleppung und der Vertreibung von Aramäerinnen und Aramäern, von Assyrerinnen und Assyrern, wir gedenken den Mitgliedern der Assyrischen Kirche des Ostens, den Chaldäern, den Mitgliedern der Syrisch-Orthodoxen Kirche, den syrisch-aramäischen Protestanten, den katholischen Syro-Aramäern – ganz unabhängig davon, welchen Namen wir wählen, wir gedenken der Gewalt gegen Menschen, die durch ihr Schicksal vereint sind. Wir gedenken Familien, die eine untrennbare Gemeinsamkeit leben. Wir gedenken Toten, die für immer ein Schicksal teilen. Diese Gemeinsamkeit besteht aber auch in den Jahrhunderten der Unterdrückung, sie besteht nicht zuletzt in den heutigen Verfolgungen sowie in den Migrationen der letzten Jahrzehnte. Gerne stellen wir auch das Überleben in diese Reihe des gemeinsam geteilten Schicksals.

Doch über das Überleben möchte ich heute nicht sprechen. Heute möchte ich tatsächlich über Erinnerung sprechen sowie zunächst über Zeugenschaft, aber vor allem über eine Frage: „Wer darf eigentlich sprechen?“ Ich zitiere: „Dies ist der Jünger, der all das bezeugt und der es aufgeschrieben hat; und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist.“1 Dieser Satz findet sich im Evangelium des Johannes. Wer hier „Jünger“ genannt wird, dies ist der Verfasser des vierten Evangeliums selbst. Sein Zeugnis, das heißt, die Geschichte, die er erzählt, wird als „wahr“ erkannt, und zwar von einem „wir“, einem kollektiven „Wir“, das auch uns, also den Leser miteinschließt.2 Gerade im Johannes-Evangelium wird der alttestamentarische Zeuge noch einmal zu einer wichtigen Figur. Er wird zum Augenzeugen für den Tod und die Auferstehung Jesu, zum Zeugen für das Geschehen selbst, aber auch für die Wahrheit der Erinnerung und Erzählung. So hatte der christliche Augenzeuge also bereits eine historiographische Aufgabe. Das heißt, er hat auch die Aufgabe übernommen, die Geschichte Gottes auf Erden zu erzählen und die Ordnungen Gottes zu erläutern. Damit oblag es ihm nicht zuletzt, auch die Geschichte der Gemeinde selbst festzuhalten.

Der Augenzeuge, das ist der, der nah am Ereignis dran ist, der vielleicht sogar unmittelbar vom Ereignis betroffen ist, und der mit seinen eigenen Augen gesehen hat. „Das habe ich mit meinen Augen gesehen“. Dieser Satz ist in jeder Erinnerung eines Überlebenden des Völkermords von 1915/16 zu finden. Ganz egal, wie genau oder wie ausführlich die Erzählung dann ist. Ganz egal, ob es überhaupt gelingt, eine Erzählung zu formulieren, die wir nicht nur verstehen, sondern die wir auch ertragen können. „Das habe ich mit meinen Augen gesehen“ – dies ist ein Satz, der im Übrigen nicht mehr betonen will, dass die Erzählung „wahr“ ist. Denn häufig wird das „Das habe ich mit meinen Augen gesehen“ mit den Worten fortgesetzt: „Aber ich kann es nicht erzählen“. Die Worte „Das habe ich mit meinen Augen gesehen“ sagen hingegen etwas über den Sprecher aus. Denn sie stellen den Sprecher in die Geschichte. Genauer: Sie stellen ihn zurück in die Geschichte. Und zwar in eine Geschichte, die bis heute ohne eine Akzeptanz geblieben ist.

„Qafle kazink“, sagte meine Mutter, womit sie zwei Wörter zusammenfügte. Zum einen den Begriff „Qafle“, ein Begriff, der etymologisch verwandt ist mit dem Arabischen „kafila“ (für „Karawane“). Das ist ein Begriff, der insbesondere in der Umgebung von Diyarbakir und Mardin genutzt worden ist, wo eben auch Kurdisch und Arabisch gesprochen wurde. Das zweite Wort, der zweite Begriff, ist das armenische Verb „kalel“, das „gehen“ bedeutet. „Qafle kazink“, dieses: „sie gingen in die Deportation“, beschrieb allerdings nicht nur die Deportation, sondern auch die Massaker in den Orten der Umgebung. „Qafle kazink“ beschrieb das Getötet-Werden.

Dieses „Wir gingen in die Deportation“ und die Beteuerung: „Ich habe es mit eigenen Augen gesehen“ oder: „Ich selbst trage die Wunden in meinem Körper“, dies sind Erzählungen, mit denen eine Anerkennung des Erfahrenen gesucht wird. Eine Anerkennung für die sprechende Person selbst. Mit dem Hinweis, ein Augenzeuge gewesen zu sein, wird eine Rolle für den Überlebenden gesucht. Eine Position. Und zwar eine Position als Zeuge. Und als Sprecher einer Geschichte. Nicht zuletzt auch: eine Position als einziger Überlebender, der die Namen der gestorbenen Familienmitglieder benennen kann. Als einziger, der die Orte des Todes kennt. Wer sonst nennt diese Orte? Wer kennt diese Orte?

Der biblische Augenzeuge, der ja nicht nur eine Figur der religiösen Überlieferung ist, sondern auch eine kulturelle Figur der sich ausbildenden christlichen Gemeinschaften des Nahen Ostens, war nie nur die Bestätigung der Wahrheit der Erzählungen. Er war immer auch ein Schlüssel zu den Schriftquellen oder eine Art Bindeglied zwischen Schriftquellen und gelebtem Glauben. Der Überlebende der Verfolgungen der Aramäer und Assyrer jedoch, der seine Erinnerungen zu erzählen suchte, dieser moderne Augenzeuge hat nach dem Ersten Weltkrieg keineswegs die Rolle einnehmen dürfen, ein akzeptierter Zeuge seiner Geschichte zu sein. Wenn seine Erzählung überhaupt gehört oder gelesen wurde, dann allenfalls als Zeugnis für eine längst vergangene, längst überholte Tradition. In der westlichen Moderne liegt die Wahrheit von Erfahrungen nicht mehr beim Zeugen. Sie liegt in der Hand des sich selbst als objektiv bezeichnenden Anderen. Jenes Anderen, der beansprucht, die Ereignisse objektiv schildern zu können. Mit diesem Anderen, der aus der Rolle als Wissenschaftler oder Politiker sprechen kann, hat sich Jahresbericht 2018 18 die Idee durchgesetzt, dass der Überlebende ein Ereignis nie wird verstehen können. Als Beteiligter, so das heutige Wissen, ist er immer zu nah dran, um objektiv zu sein.

Sicherlich steckt in diesem Bild auch etwas Wahres. Denn die Überwältigung durch ein Gewaltereignis hinterlässt über Generation hinweg ihre psychischen Spuren. Aber kann es überhaupt eine Objektivität geben, wenn wir über einen Völkermord sprechen? Mein Satz gegen dieses Bild der mangelnden Objektivität, das den Opfern letztlich ihre Stimme entzieht und sie zum Schweigen bringen will, mein Satz dagegen ist immer, dass die Trennung zwischen Opfern und Tätern, die in der Deportation und in den Massakern absolut war, dass diese Trennung nicht aufgehoben werden kann.

Doch wenn man die Stimmen der aramäischen und assyrischen Überlebenden nicht gehört hat, warum hört man dann auf Stimmen der Opfer und blendet diese in den Fernsehnachrichten ein, wenn es um schwere Unglücke oder Anschläge geht? Warum gelten sie als akzeptierte Stimmen des Ereignisses? Und warum dürften türkische oder in der Türkei geborene Historikerinnen und Historiker das Muster der „Objektivität“ erfüllen? Bei der Frage, wer darf sprechen, geht es nämlich nur scheinbar um Betroffenheit, Beteiligung und Objektivität. Eigentlich geht es um eine genauestens vordefinierte Position darüber, wer sprechen darf. Es geht um einen genau definierten Kanon von Ereignissen, was und wer dazugehört, was und wer zählt, welches Opfer zählt und welche Geschichte als wichtig gilt. Sprechen darf nicht der, der als Opfer beteiligt war, sondern der, der dazugehört. Doch wieso gehören die Opfer des Völkermords von 1915/16 nicht zu den Opfern, die für die Geschichte der Welt zählen? Darauf gibt es eine sehr einfache, zugleich herausfordernde Antwort: weil diese Opfer mit ihren Erzählungen einen bestimmten Konsens des Westens stören. Dies sage ich in aller Radikalität. Und in aller Radikalität, die dieser Satz impliziert, stelle ich fest, dass der Ausschluss, den die Opfer aus der Geschichte und die Überlebenden aus dem Kreis derer erfahren haben, deren Stimme zählt, dass dieser Ausschluss in unterschiedlichen Jahrzehnten und in unterschiedlichen Generationen immer neu definiert wurde. Bis heute wurde er immer wieder neu wiederholt. Dies sehen wir insbesondere auch in den Berichten über die Gewalt in Syrien und im Irak. Wenn es um die aktuellen Berichte über die Morde und Vertreibungen geht, dann erscheinen die Christen des Nahen Ostens vor allem als Störenfried. Denn zu unbequem ist ihre Erzählung.

Welche Aufgaben können wir aus diesen Beobachtungen ziehen? Die beiden wichtigsten Aufgaben sind: Die Erzählung nicht anderen überlassen, sondern selbst das Wort behalten. Auf der eigenen Erzählung beharren und auf der Position als Sprecher der eigenen Geschichte. Dies ist so wichtig, weil mit der Position des Sprechers auch die Frage der Deutungshoheit verbunden ist, die Frage der gesellschaftlichen und politischen Bewertung. Also, liebe Freunde, lasst uns nicht Zuschauer der eigenen Geschichte bleiben, sondern endlich selbst das Wort ergreifen!

Die zweite Aufgabe ist: überhaupt einmal zu sehen, was sich hinter dem Begriff der „Erinnerung“ verbirgt. Was ist „Erinnerung“? Eine Erinnerung ist nie eine Wiederholung einer Erzählung oder ein Zitat. Jedes Erinnern ist ein Erzählen in einem jeweiligen Heute. Jedes Erinnern, so, wie wir hier heute zusammen sind, ist für jeden anders. Damit verändert sich Erinnerung. Erinnerung ist also etwas Dynamisches. Denn Erinnerung muss immer neu hergestellt werden. Dadurch, dass Erinnerungen erinnert werden, werden sie immer neu gültig. Dadurch, dass sie immer neu erinnert werden, werden sie immer neu für unsere heutige Situation gültig. Die Bindung, die wir an die Geschichte der Ermordungen und Vertreibungen, der Beraubungen und Gewalt von 1915/16 haben, ist nur die Erinnerung. Und nur die Erinnerung gibt auch den Überlebenden überhaupt eine Stellung zurück. Auch deshalb dürfen wir das Reden nicht nur den Anderen überlassen. Das Reden, die Rolle des Sprechers, ist von uns auszufüllen.

Liebe Freunde, ich habe heute mit einem Verweis auf die biblische Überlieferung begonnen – und werde noch einmal auf die Überlieferung zurückkommen. Denn versprochen ist in der Überlieferung, dass die Verbannung einmal ihr Ende haben wird – und damit auch die Trauer. In allen Kulturen haben wir Trauerriten. Bestimmte Gebete und Erzählungen, durch die wir wissen, dass Trauer in Phasen verläuft und schließlich, nach Abschluss der Trauerprozesse, eine Erinnerung bleibt, die weniger schmerzt. Doch wenn wir über die Erinnerung der Aramäer und Assyrer sprechen, dann steht in den letzten Jahren nach wie vor das Ringen um politische und soziale Anerkennung im Vordergrund. Anerkennung heißt aber nicht, mit einer Erinnerung Frieden schließen zu können. Es heißt im Fall eines Völkermords: überhaupt nach Möglichkeiten suchen zu können, eine Trauer zu beginnen.

Denn Trauer bedeutet, die Namen der Toten sagen zu können und die Namen der Orte, an denen sie ermordet wurden. Orte, die bis zum heutigen Tag stets mehr geworden sind. Orte, die wir zu einem großen Teil auf geographischen Karten nur mühsam wiederfinden können. Die Trauer um die Ermordeten des Völkermords hat kein Ende, auch nicht mit den nächsten Generationen. Denn sie hat keinen Anfang genommen. Dort, wo die Mehrheit der Massaker-Orte unbekannt ist, wo die Regionen umbenannt wurden, wo eine Unterdrückung und Verfolgung andauerte, dort war es nicht möglich, eine Erinnerung zu bilden. Dies, weil die Überlebenden nicht erzählen durften. Weil man die Überlebenden um das einzige beraubt hat, das der Gemeinschaft eine soziale Stellung hätte ermöglichen können: Eine Akzeptanz für ihre Erzählung als Zeugen und eine Akzeptanz ihrer Erzählung als wahr.

Dies ist im Übrigen die zentrale Aufgabe eines Gedenktages. Für einen Moment wenigstens einen sicheren Raum zu schaffen für diese Erfahrung. Und es ist unsere Aufgabe zu erkennen, dass Erinnerung etwas ist, was geleistet werden muss. Von jeder Generation. Und von jeder Generation neu. Dies, auch wenn die generationale Klammer, also das, was uns über Generationen verbindet, kein Frieden ist, den wir in der Erinnerung finden. Es ist hingegen etwas, was ich als Zeilen in einem Gedicht von Heinrich Heine gefunden habe – wobei im Übrigen das Kaddisch, das bekannte jüdische Trauergebet, das in der Gedichtzeile als „Kadosch“ vorkommt, eigentlich zunächst ein aramäisches Gebet gewesen ist: „Keine Jahresbericht 2018 20 Messe wird man singen, / Keinen Kadosch wird man sagen, / Nichts gesagt und nichts gesungen / Wird an meinen Sterbetagen.“3

In dieser Stille, die eine erzwungene Stille ist, eine Stille der Entreißung des Sagens, begehen wir den Gedenktag an den Völkermord von 1915/16. Dies mit einem Aufruf der Erinnerung an uns. Mit einer Forderung nach einer Akzeptanz der Augenzeugen und Zeugen. Aber auch mit der Gewissheit, dass wir über das, was gefordert ist, verfügen: eine besondere Fähigkeit zu erinnern, eine Erinnerung und eine Erzählung gegenwärtig zu halten. Dies war – und ist auch heute – das Geheimnis des Überlebens.

Fußnoten

  1. Johannes 21, 24.
  2. Zimmermann, Ruben: „Augenzeugenschaft“ als historisches und hermeneutisches Konzept – nicht nur im Johannesevangelium, in: Wie Geschichten Geschichte schreiben. Frühchristliche Literatur zwischen Faktualität und Fiktionalität, hrsg. von Susanne Luther, Jörg Röder und Eckart D. Schmidt, Tübingen: Mohr Siebeck 2015, S. 209-251, hier S. 212
  3. Heinrich Heine: Gedächtnisfeier.