Eure Eminenz Mor Philoxenos Matthias Nayish, Bischof der syrisch-orthodoxen Erzdiözese in Deutschland, sehr geehrter Herr Prof. Brumlik, sehr geehrte Frau Prof. Weltecke, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste,

seit Beginn dieses Jahres hat die Debatte um den Umgang mit dem Völkermord der Jungtürken in den Jahren 1915/16 international hohe Wellen geschlagen. Anlass war die Anerkennung des Völkermords durch seine Heiligkeit Papst Franziskus in einer Messe zum Gedenken an die genannten Ereignisse. Die türkische Regierung reagierte mit den gewohnten Drohgesten.

In den Debatten, die in Deutschland auf die päpstliche Erklärung folgten, ging es leider wieder nicht um Fragen des Andenkens an die Opfer und auch nicht um die Lehren aus dieser Gewaltgeschichte. Auch ging es nicht darum, wie die Geschichte wieder eingeschrieben werden kann in die Geschichte einer Region, aus der sie gewaltsam und radikal gelöscht wurde. Vielmehr ging es um die Frage, ob der Schutz des Andenkens der Opfer und des Wissens um die historische Wahrheit höher zu bewerten sind als die politische Beziehung zur Türkei.

Meine Damen und Herren, während sich dieses Jahr der Völkermord zum 100. Mal jährt, ist dieser nach wie von der deutschen Bundesregierung nicht als Völkermord anerkannt. Wir dürfen bei der heftigen öffentlichen Debatte nicht aus dem Auge verlieren, dass aus Rücksicht auf die Beziehungen zur Türkei der Begriff Völkermord in der Resolution vermieden worden ist. Aber es ist dennoch ein ermutigendes Signal, dass sich im Rahmen der Debatte „Gedenkstunde am 24. April“ im Bundestag Vertreter aller Fraktionen mit so deutlichen Worten zu dieser Frage geäußert haben. Es ist auch ermutigend, dass der Bundespräsident in dem Ökumenischen Gottesdienst zum Gedenken des Völkermords an Armeniern, Aramäern und Griechen eindeutige Worte gefunden hat. Er nannte die Ereignisse nicht nur Völkermord. Er sprach auch von der deutschen Mitschuld. Ich zitiere: „In diesem Fall müssen auch wir Deutsche insgesamt uns noch der Aufarbeitung stellen, wenn es nämlich um eine Mitverantwortung, unter Umständen sogar Mitschuld, geht.

So ermutigend diese Entwicklung auch ist, meine Damen und Herren, 100 Jahre nach dem Genozid ist damit lediglich der Begriff Völkermord politisch salonfähig geworden. Die klaren Aussagen des Bundespräsidenten sowie einzelner Abgeordneten sind zwar ein bemerkenswerter Durchbruch und begrüßenswert. Dennoch wurde im Rahmen der Bundestagsdebatte mit Blick auf den Antragsentwurf deutlich, dass die Bundesregierung nicht bereit ist, historische Tatsachen beim Namen zu nennen. Stattdessen versucht sie sogar, Fakten durch Wortspiele und Spitzfindigkeiten zu vertuschen. Einen Paradigmenwechsel in der deutschen Politik hinsichtlich des Völkermordes wird es also erst einmal nicht geben. Die Debatte der Verharmlosung und der Leugnung durch die türkische Politik wird weiterhin politischen Raum in Deutschland haben. Und sogar neue Strategien sind neben die offene Relativierung und Negation getreten, die diese Leugnung nachhaltig stärken und somit Strategien der Zerstörung von Erinnerung sind. Sie schlagen vor zu gedenken, ohne die Türkei zu „belasten“, und streben nach einem Dialog und einer Politik der Versöhnung zwischen der Republik Türkei und der Republik Armenien.

Meine Damen und Herren, diese ist eine von Tätern forcierte Strategie. Denn was ist mit dieser „Versöhnung“ gemeint? „Versöhnung“ im politischen Sinne stärkt die Solidarität der Staaten der internationalen Weltgesellschaft, weil sie erlaubt, Konfliktpotentiale zu mindern. Die „Politik der Versöhnung“ erlaubt es Täterstaaten, nicht mehr als Täter, sondern als Partner in der Politik aufzutreten. Nach einem Völkermord jedoch ist es schwer, Versöhnung zu erreichen. Denn ein Völkermord ist nicht das Ergebnis eines Konflikts zwischen Konfliktpartnern. Die Politik des Völkermords ist durch die Einseitigkeit der Gewaltanwendung durch den Täter charakterisiert, der gezielt und vorsätzlich Gewalt anwendet. Im Völkermord stehen sich nicht Konfliktparteien gegenüber, sondern „Täter“ und „Opfer“. Ohne diese Täter-Opfer-Beziehung klar zu benennen, kann es keine Versöhnung geben.

In dieser Täter-Opfer-Beziehung ist es irrelevant für die Anerkennung eines Völkermordes und für die Übernahme von Verantwortung, ob die Opfergruppe durch einen Nationalstaat vertreten ist oder nicht. Wir, die Aramäer, haben keinen Nationalstaat. Spätestens in unserem Fall offenbart sich, dass eine solche „Politik der Versöhnung“ absurd ist. Diese Strategie würde uns grundsätzlich den politischen Raum zum öffentlichen Gedenken absprechen und uns zum Schweigen verdammen.

Und schweigen mussten wir lange genug: veranlasst durch diese und ähnliche Strategien sowie durch die postgenozidiale Politik der Republik Türkei, die eine Verarbeitung des Völkermords in der Heimat für die Überlebenden und deren Nachkommen bis heute verhindert. Parallel zu dem Völkermord an den Armeniern vollzog sich der Völkermord an uns, an der Aramäischen Gemeinschaft, oder, in konfessioneller Sprache gesprochen, an den syrisch-orthodoxen, syrisch-katholischen, syrisch-protestantischen, assyrischen und chaldäischen Christen. Entrissen sind wir unserer Heimat und unserer Geschichte. Über 500.000 Menschen, drei Viertel der aramäischen Bevölkerung, wurden systematisch und vorsätzlich ermordet. Diese Katastrophe ist in unserem kollektiven Gedächtnis als Sayfo, als Jahre des Schwertes eingeprägt und sie ist ein Bestandteil unseres Gemeinschaftslebens. Dennoch konnte sie bisher nicht in die Weltöffentlichkeit eindringen. Sie hat keine Aufarbeitung in der Wissenschaft und Kunst gefunden.

Erst in der neuen Heimat, in der Diaspora, darf man nun frei und ohne Angst über die Ereignisse während des Völkermordes reden und reflektieren. Dies trägt dazu bei, dass die Erzählungen über diese leidvolle Geschichte nicht nur innerhalb unserer Gemeinschaft im Stillen weiter gegeben wird, sondern auch öffentlich gemacht wird. Es ist ein geschichtliches Ereignis, das mit der ganzen Weltgemeinschaft geteilt werden muss. Wir sind es den Opfern schuldig, dass das Martyrium, das sie erleiden mussten, nicht vergessen wird.

Als Beginn des Völkermords gilt der 24. April 1915, der Tag, an dem Jungtürken über 200 armenische Intellektuelle, Politiker und Geistliche im damaligen Konstantinopel festnehmen und größtenteils töten ließen. Es folgten Massaker und Deportationen in die nordsyrische Wüste. Diejenigen, die die Todesmärsche überlebten, starben an Hunger, Erschöpfung und Krankheiten. Die Ideologie, die zu diesem Wahnsinn führte, erreichte am 2. Juni desselben Jahres die Stadt Nisibis. Nisibis gilt in der Erinnerung unserer Gemeinschaft als Ort der Wissenschaft und Kultur. Die Schule von Nisibis – gegründet im Jahr 350 – war ein Zentrum von Philosophie, Theologie und Dichtkunst. Sie hat Werke hervorgebracht, die über den aramäischsprachigen Raum hinaus eine Rezeption auch im Westen gefunden haben. Sie sind tief in unserem kollektiven Gedächtnis verankert. Die Carmina Nisibina mögen hier genannt werden, ebenso Lehrer und Mönche wie Ephräm der Syrer, der z.B. ein Kirchenlehrer der römisch-katholischen Kirche ist, Mar Nersay und Mar Jakob von Nisibis. Mit der Deportation der letzten aramäischen Bewohner der Stadt 1915 und mit der Ermordung des letzten Mönchspriesters Estaphanos war nun diese Tradition der alten Bildungsstätte endgültig gebrochen. Ihre Vernichtung hatte zum Ziel, über unsere physische Existenz hinaus auch unser kulturelles und intellektuelles Dasein auszurotten.

Zum 100. Jahr des Völkermords wollen wir erstmals einen öffentlichen Gedenktag schaffen. der allein der tragischen Leidensgeschichte unserer Gemeinschaft gewidmet ist und mit einer eigenen Gedenktradition begangen wird. Ein fester Gedenktag soll dazu beitragen, dass die Ereignisse vor 100 Jahren nicht länger als „vergessener Genozid“ im Dunkel bleiben – denn als solchen empfinden wir ihn – sondern dass dieses große Leid der Aramäer angemessen im öffentlichen Gedächtnis verankert wird.

Es geht dabei darum, das Wissen um die Ursachen, Prozesse und Folgen der Gewalt als historisch und politisch wichtiges Wissen zu bewahren und zu schützen. Dies ist nicht zuletzt mit der Hoffnung verbunden, über die Erinnerung zur Versöhnung beizutragen und Wunden zu schließen. Dafür braucht das Erinnern eine Ermutigung, und die aramäische Erfahrung braucht einen Ort in der europäischen Erinnerungskultur. Hierfür sind wir heute versammelt.

Sehr herzlich darf ich mich bei den Künstlern bedanken: Beim Komponisten Herrn Andranik Fatalov, der sich der Herausforderung angenommen hat, Hymnen der syrisch-orthodoxen Kirche für ein Streichquartett neu zu interpretieren. Das Werk, das für den Gedenktag in Auftrag gegeben worden ist, entstand auf der Grundlage einer Rekonstruktion aramäischer Melodien der Spätantike aus dem „Beṯ Gazo“. Ich bedanke mich herzlich bei den Geigerinnen Nazeli Arsenyan und Claudia Farrés Alava, bei der Bratschistin Sophie Rasmussen und dem Cellisten Davit Melkonyan und schließlich bei der Sängerin Frau Maria Kaplan. Sie werden gemeinsam diese Gedenkfeier musikalisch begleiten. Über die Beiträge des Streichquartetts hinaus wird der syrisch-orthodoxe Chor der Gemeinde Mor Jakob seiner Eminenz beim Andenken musikalisch begleiten. Ich möchte meinen Dank dafür aussprechen.

Ein besonderer Dank gilt Frau Anne Osterloh, die am heutigen Abend aus den Erinnerungen von Frau Saro dbe Bënno, einer Überlebenden des Völkermords, rezitieren wird.

Ich freue mich sehr über die Anwesenheit seiner Eminenz Mor Philoxenos Matthias Nayish, Bischof der syrisch-orthodoxen Erzdiözese in Deutschland. Auch seine Eminenz Mar Odisho Oraham, Bischof der Heiligen Apostolischen und Katholischen Assyrischen Kirche des Ostens, hatte uns sein Kommen angekündigt, kann nun aber leider doch nicht hier sein, weil er sich gerade in Erbil im Irak befindet, um den Nachfolger des vor kurzem verstorbenen Patriarchen Mar Dinkha IV. zu wählen. Er entschuldigt sich sehr für seine Abwesenheit.

Besonders herzlich bedanken möchten wir uns auch bei Prof. Micha Brumlik, der ja nicht nur durch seine wissenschaftlichen Arbeiten zu Gedächtnis, historischer Verantwortung und historischem Lernen national und international überaus bekannt ist. Er gehört auch zu den wenigen Intellektuellen in der Bundesrepublik, die sich engagiert in öffentliche Debatten einschalten und die Stimme auch gegen den Konsens erheben. Lieber Herr Brumlik, ich freue mich sehr, dass Sie heute hier bei uns sind und damit – so möchte ich sagen – ein deutliches Zeichen setzen.

 

Sehr herzlich bedanke ich mich bei Frau Prof. Dorothea Weltecke. Die Stiftung für Aramäische Studien ist überaus glücklich, dass sie die Forschungsstelle für Aramäische Studien in Ihrer Professur im Fachbereich Geschichte und Soziologie an der Universität Konstanz einrichten durfte. Wir danken Ihnen sehr für Ihr Engagement und Ihre Liebe zu unserer Gemeinschaft. Besonders erfreulich ist, dass dort bald ein Projekt beginnen wird, das sich der Erforschung des Völkermords widmen wird.

Bedanken möchte ich mich schließlich bei den Verantwortlichen der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, uns für den heutigen wichtigen Tag dieses besondere Gotteshaus als Ort des Gedenkens zur Verfügung zu stellen.