Studienreise nach Oxford

Wenn sich ein Volk ohne Staat auf die Suche nach seinen Kunst- und Kulturschätzen begibt, muss es große Mühen auf sich nehmen und weit reisen. Denn ein Volk ohne Staat hat keine eigenen Museen und Kultureinrichtungen, die die Bewahrung und Weitergabe der eigenen Kulturdenkmäler als Aufgabe wahrnehmen – zumindest das unsere nicht.

Zu einer solchen Reise lud die Fundatio Nisibinensis vom 10. bis zum 13. August ein. Rund 20 Aramäer machten sich auf den Weg, um London, der Hauptstadt Großbritanniens, und Oxford, der altehrwürdigen Universitätsstadt, einen Besuch abzustatten. Die Eindrücke, die sie sammelten, sollen hier in einem kleinen Bericht wiedergegeben werden.

 

Es war ein sonniger Tag, an dem die ersten Reisenden in London eintrafen. Sie wurden zu ihrer eigenen Überraschung nicht vom englischen Regen begrüßt. Es schien vielmehr so, als seien sie dem trüben Wetter in Deutschland entkommen. Kaum hatten sie ihr Gepäck im Hostal verstaut, machte sich diese erste Gruppe auf eine Besichtigungstour durch die Stadt.

Wer in London zu Fuß unterwegs ist, erkennt sehr schnell, wie groß die Stadt ist. Da kann keine deutsche Großstadt kann da mithalten. Und auch wenn man große Strecken bewältigen muss, um von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten zu kommen, so bietet sich auf diesem Weg dem Touristen doch ein ganz besonderer Eindruck. Eben diese Art der Stadterkundung bevorzugten unsere Studienreisenden. Sie meinten, dass ein ganzer Tag zum entspannten Bummel in der Stadt mit entsprechenden touristischen Höhepunkten mehr als ausreichen würde.

Wie falsch sie doch lagen. Der ganze Tag reichte zwar aus, um einige der wichtigsten Sehenswürdigkeiten zu sehen, doch bei weitem nicht für eine entspannte Tour durch die Stadt. Die Folgen einer solchen Tour sind jedem Teilnehmer noch sehr gut in Erinnerung. Totale Erschöpfung, Fußschmerzen, Ausfallerscheinungen, Reizbarkeit – auf den ersten Blick war das die Bilanz des ersten Tages. Doch dieser Eindruck täuscht. Das gute Wetter, interessante Menschen und überwältigende Eindrücke vom Buckingham Palace, den Houses of Parliament, der St. Pauls Cathedral, dem Tower und der Towerbridge, ein besonderer Spaziergang entlang der Flaniermeile an der Themse waren eine ausreichende Entschädigung für die empfundene Erschöpfung.

Im Laufe dieses Tages trafen die übrigen Reisenden ein. Verpasste und stornierte Flüge, fehlende Visa und ein kompliziertes Eincheckverfahren vervollständigten die Ereignisse, die sich immer um eine Gruppenreise verdichten.

In ein ganz besonderes Zentrum der Gelehrsamkeit brach die gesamte Reisegruppe am frühen Morgen des nächsten Tages auf. Der Zug beförderte sie raus aus der großen und stark pulsierenden Stadt in Richtung Oxford.

Oxford ist eine Kleinstadt, vergleichbar mit Heidelberg. Ist dieser eine Vergleich einmal angestellt, da drängt sich dem Aramäer gleich ein anderer Vergleich auf. Beide Städte beherbergen alte Universitäten. Beide Universitäten zeichnen sich durch ihre orientalischen und insbesondere semitischen Studien aus. Ebenso sind beide Städte der Anlass dieser Studienreise. Es sind die Sitze zweier Einrichtungen, die sich für aramäische Studien einsetzen. Die Rede ist von der ARAM-Society for Syro-Mesopotamian Studies in Oxford und der Fundatio Nisibinensis – Gesellschaft zur Förderung Aramäischer Studien in Heidelberg. Eben diese Institutionen sollten hier zu einem Zusammentreffen finden.

Am Bahnhof wurde die Gruppe von Dr. Aho Shemunkascho empfangen, welcher selbst einmal Syrologie in Oxford studierte. Er führte die Gruppe durch die historische Innenstadt, vorbei an den alten Colleges, den vielen Türmen, Kuppeln und Bibliotheken, und begleitete sie zum Treffpunkt: dem ARAM-House. Dort wurden die Reisenden von Abuna Dr. Shafik Abuzayd herzlich begrüßt. Dieser Priester der Maronitischen Kirche ist der Begründer der ARAM-Society und Herausgeber der wissenschaftlichen Zeitschrift ARAM. Im großzügigen Garten dieses ganz besonderen Hauses nahmen die Gäste platz und wurden sogleich zuvorkommend bedient. Reichhaltige Speisen und erfrischende Getränke stillten den ersten Hunger und Durst. Dazu gesellten sich der ehrenwerte Prof. Sebastian Brock mit seiner Ehegattin und Prof. David Taylor. Während der erstgenannte der Begründer der syrischen Studien in Oxford, ist David Taylor sein Nachfolger als Leiter des Instituts für Syrische Studien. Beide sind Mitherausgeber der allseits bekannten Verborgenen Perle.

Es war ein ruhiger Mittag mit interessanten Gesprächen und noch interessanteren Gesprächspartnern. Denn selten bekommt man die Gelegenheit diesen Ikonen zu begegnen. Auch das Gespräch zwischen den beiden Institutionen verlief sehr konstruktiv und für eine gemeinsame zukünftige Zusammenarbeit sehr viel versprechend. An dem Gespräch nahmen neben den Mitgliedern der beiden Vorstände – auf der einen Seite Dr. Abuzayd, Prof. Brock und Prof. Taylor und auf der anderen Zeki Bilgic, David Gelen, Melki Adiyaman, Daniyel Demir und Jason Inan – auch George Kiraz, Dr. Shemunkasho und Ninos Edda teil.

Der Rest des Tages ging ins Wasser – oder genauer gesprochen: Es ging aufs Wasser. Ein in England lebender Aramäer begleitete uns zusammen mit George Kiraz, jenem Herrn aus den Vereinigten Staaten, der uns das Schreiben des aramäischen Alphabets mit Word-Fonts ermöglichte und auch ehemaliger Oxford-Student, an einen nahe gelegenen Kanal. Auf eben diesem Kanal konnten wir entspannt das traditionelle Rudern erleben. Das Duell Heidelberg-Oxford gewann zwar Oxford, aber nur aufgrund des Heimvorteils. Einer Revanche auf dem Neckar blicken wir sehnlichst entgegen.

Zurück in London stand zunächst der Besuch eines melkitischen Gottesdienstes und anschließend des neuen Bischofs der Syrisch-Orthodoxen Kirche in England auf dem Studienplan. Zu letzterem begab sich die Gruppe an den Stadtrand auf die abenteuerliche Suche nach der Syrisch-Orthodoxen Gemeinde. Dort angekommen nahmen sie zunächst an dem Gottesdienst teil, welcher wegen der zum größten Teil aus dem Irak kommenden Gemeinde auf Arabisch stattfand. Uns aber begrüßte der Bischof auf Aramäisch. Nach den herzlichen Worten ging es zu dem von der Gemeinde vorbereiteten Buffet mit köstlichen Speisen, ganz dem orientalischen Gaumen der Gäste entsprechend. In der darauf folgenden Gesprächsrunde mit dem Bischof wurde die momentane Situation der Syrisch-Orthodoxen Kirche diskutiert. Insbesondere kam auch die dramatische Lage unseres Volkes im Irak zur Sprache. Ein Thema, das aufgrund der aktuellen Ereignisse jedem Anwesenden auf dem Herzen lag.

Der krönende Abschluss dieser Reise waren die Besuche in den Museen. Zunächst ging es in die Britsh Library. Die dortige Ausstellung über heilige Schriften enthielt auch eine Reihe von aramäischen Manuskripten aus verschiedenen Jahrhunderten. Im Anschluss ging es ins British Museum. Empfangen wurden unsere wissenshungrigen Aramäer von einem eigens engagierten Museumsführer, der die Führung mit besonderem Schwerpunkt auf der mesopotamischen Kultur gestaltete. So ging es also nach einem kurzen Zwischenstopp bei ägyptischen Skulpturen zu den antiken Stätten Mesopotamiens. Dort bewunderten unsere Kunstfreunde nicht nur die ältesten Kunstwerke der Menschheit, sondern auch die Entwicklung der menschlichen Zivilisation in seinen Anfängen. Sie staunten über die ersten aramäischen Reliefs aus Tell Halaf, welche die Grundlage für die späteren Reliefs aus den assyrischen Städten wurden und waren fasziniert von der Königin der Nacht, einer dämonischen Abbildung einer mesopotamischen Göttin. Sie verfolgten gespannt die Löwenjagd des assyrischen Königs Assurnasirpal und sahen die ältesten Niederschriften des babylonischen Gilgamesch-Epos. Sie standen eingeschüchtert vor den geflügelten Stieren als Bewacher der antiken Städte und verzaubert vor den reich verzierten Stelen mit Motiven, die in der Moderne zu Nationalsymbolen wurden und die unterschiedlichen Fahnen zieren.

Nach den ereignis- und lehrreichen Tagen verabschiedete sich die Gruppe wieder gen Deutschland und nicht zu vergessen Holland, von wo wir drei unermüdliche Reiseteilnehmer unter uns hatten. Die schönsten Erinnerungen an solche Reisen sind die lustigen Erlebnisse, die sich neben und nach dem Programm ereignen und nicht in einem solchen Bericht wiedergegeben werden können. Zuletzt bleibt uns, einen Dank auszusprechen, in aller erster Linie an Ninos Edda und Dr. Aho Shemunkasho, die das Treffen mit der ARAM-Society auf den Weg gebracht und organisiert haben.