Gesellschaft fordert Wissenschaft

Unter dem Motto „Gesellschaft fordert Wissenschaft“ rief die Fundatio Nisibinensis – Gesellschaft zur Förderung Aramäischer Studien zum deutschlandweiten Studenten- und Akademiker-Event auf. Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand die Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Wissenschaft für unsere Gesellschaft, aber auch der Austausch und das Kennenlernen von Studierenden und Akademikern, welches eine notwendige Bedingung für die Erfüllung dieser Herausforderung ist.

Rund 80 Studierende und Akademiker folgten dem Ruf der Fundatio Nisibinensis zum syrisch-orthodoxen Kloster Mor Jakob von Sarug in Warburg. Der Studenten- und Akademikertreff wurde durch seine Eminenz Mor Julius Dr. Hanna Aydin herzlich empfangen. Der Bischof der syrisch-orthodoxen Diözese in Deutschland war sichtlich erfreut: „Es war immer mein Traum, solch eine Zusammenkunft der Studierenden und Akademiker zu erleben!“ Er referierte am Beispiel der Syrisch-Orthodoxen Kirche über das „Verhältnis von Wissenschaft und Religion.“

In einer entspannten Atmosphäre, ganz im Zeichen einer lockeren Zusammenkunft stellte der 1. Vorsitzende der Fundatio Nisibinensis Zeki Bilgic die Arbeit und Projekte der Gesellschaft vor. Die Fundatio Nisibinensis stehe für die wissenschaftliche Beschäftigung, welche notwendig für die Entwicklung und den Fortbestand jeder Gesellschaft ist. Die Forschung über die aramäische Gemeinschaft soll als Wissenschaftsdisziplin einen Platz in der deutschen Wissenschaftslandschaft finden. Auf die Relevanz dieser Arbeit ging der Hauptreferent der Veranstaltung Prof. Mihran Dabag in dessen Vortrag „Um gesehen zu werden, muss man sichtbar sein. Aramäer im 21. Jahrhundert“ ein.

Prof. Dr. Mihran Dabag sprach von der Wichtigkeit der „Sichtbarkeit“ in der modernen Welt für die Bewahrung der Identität. Bei dieser Gelegenheit gratuliert die Fundatio Nisibinensis Prof. Dr. Mihran Dabag für seine Auszeichnung mit dem  Bundesverdienstkreuz. Am 18. Juni 2009 wurde Herr Dabag für seine herausragenden Verdienste um den Aufbau und die Leitung des Instituts Diaspora- und Genozidforschung und als Pionier in dieser Wissenschaftsdisziplin mit einem Bundesverdienstkreuz am Band geehrt, welche ihm durch den Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen Jürgen Rüttgers (in Vertretung des Bundespräsidenten) verliehen wurde. Die Fundatio Nisibinensis ist stolz darauf, mit diesem Wissenschaftler zusammen zu arbeiten.

Prof. Dabag führte zu Beginn seines Vortrags eine Definition des zentralen Terminus „Sichtbarkeit“ an. Das Prinzip der Sichtbarkeit und seine Bedeutung für die Mobilität und die internationale Vernetzung von Information und Kommunikation hob der Referent dabei besonders hervor. Er erklärte, dass – wenn man so wolle – das Recht auf Sichtbarkeit als zentrale Errungenschaft auf direkte Weise aus der französischen Revolution hervorgegangen sei. Als Beispiel nannte Prof. Dabag die Enzyklika Benedikts, nach der die neue Botschaft im Neuen Testament Sichtbarkeit sei; die neue Sichtbarkeit des lebendigen Gottes in der Gestalt Jesu. 

Von dieser Begrifflichkeit ausgehend, wurde der Bogen zur Identität der Aramäer und deren Sichtbarkeit in der Diaspora geschlagen. Denn nach der Schaffung der nationalstaatlichen Identitäten im 19. und 20. Jahrhundert zeige sich heute generell die Schwierigkeit der Bewahrung der Identität für neue Generationen, welche in der Diaspora leben. Es drohe die Gefahr der Unsichtbarkeit in der westlichen Gesellschaft. Und hier setze die neue zu bewältigende Aufgabe der Kirche ein. Denn in der Zerstreuung der gottlosen Diaspora gelte es, neue Handlungsräume durch neue Institutionen und neue Kollaborationen zu schaffen.

Des Weiteren ging Prof. Dabag auf die Rolle der aramäischen Gemeinde ein. Die gebildete Gesellschaft im 21. Jahrhundert stelle sich modernen Fragen, wozu es eines abstrahierenden Denkens hin zu einer gefühlten Schicksalsgemeinschaft bedürfe. Der entscheidende Punkt für die Ausbildung einer solchen Zusammengehörigkeit sei die Entschlossenheit zu wissen, Träger einer Geschichte zu sein. Hierzu gehöre die Entwicklung von Formen zur Selbsterklärung und Selbsterkennung, ohne Gefahr zu laufen, sich zu verlieren. Zur Fähigkeit der Selbstdefinition sei das Bewusstsein für Toleranz relevant, das unmittelbar aus dem Recht auf Ausübung einer Kultur und dem Recht auf Erzählen und Weitergeben der eigenen Geschichte in der Diaspora entspringe.

Prof. Dabag leitete an diesem Punkt zu seinem anderen Vortragsschwerpunkt, Tradition in der Diaspora, über. Für die in der Diaspora lebende Gemeinschaft definiere sich Tradition auf eine andere Weise. Zum einen wird sie durch Bewahrung der alten Tradition bestimmt. Andererseits werde gerade diese durch fortschreitende Assimilation an die neue Gesellschaft fortwährend verändernd. Diese Entwicklung sei nicht nur unumgänglich, sondern fordere ein neues dynamisches Konzept von Tradition, ausgehend von der intrinsischen Veränderbarkeit der Diaspora.

Demnach seien Traditionen keine starren Riten, die weitergegeben werden sollen. Vielmehr müssen neue Traditionen erweckt werden, da die Re-Interpretation von Tradition eine notwendige Fähigkeit in der Diaspora darstelle, nicht zuletzt, um sichtbar zu bleiben. Prof. Dabag betonte in diesem Kontext erneut die Relevanz der Sichtbarkeit: „Wenn man heute unsichtbar ist, dann bleibt man ohne Schutz, ohne Namen, ohne Status!“ Er warnte eindringlich vor der Bedrohung durch Assimilationsdruck in der westlichen Gesellschaft, die größer sei, als jene Gewalt, der man Jahrhunderte in der Heimat ausgesetzt war.

Sina Tok, die Moderatorin des Programms und neben Anja Türkan, Murat Yanik und Sara Can die Organisatorin des Events, erinnerte die Teilnehmer über ihre Verantwortung für die Gesellschaft und eröffnete gleichzeitig die Dinner-Party am Abend im Garten des Klosters im gemütlichen Beisammensein