Sayyidna, verehrte Geistliche, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde, ich habe die Freude und die Ehre, die Forschungsstelle für Aramäische Studien in Konstanz zu beherbergen. „Leiten“ wäre nicht das richtige Wort, denn ich leite sie nicht, sie leitet sich selbst. Als Gastgeberin der Forschungsstelle möchte ich Sie zu dieser wichtigen Gedenkfeier begrüßen.

Ich bin gebeten worden, als Historikerin zu diesem Gedenktag Stellung zu nehmen. Ich will damit beginnen, mich bei all meinen aramäischen und assyrischen Studienfreunden zu bedanken. Denn ohne sie wäre ich nicht hier. Ohne sie wäre ich der Geschichte und Kultur der orientalischen Christen nicht begegnet. Ohne die Initiativen zur Anerkennung des Völkermordes in diesem Land, ohne das Institut für Völkermord- und Genozidforschung in Bochum unter der Leitung von Professor Mihran Dabag, ohne die Menschenrechtsarbeit und die wissenschaftlichen Initiativen von Professor Tessa Hoffmann in Berlin, ohne das ökumenische Komitee „Mit einer Stimme sprechen“ und weitere Initiativen von Betroffenen wie die Stiftung für Aramäische Studien würden wir hier heute nicht diesen Gedenktag begehen. Für die Aufarbeitung des Völkermordes an den aramäischsprachigen Christen ist besonders auch das Verdienst von Amill Gorgis zu benennen, der seit Jahren auf die syrischen Chroniken und Berichte von den Ereignissen aufmerksam und sie durch Übersetzungen der deutschsprachigen Öffentlichkeit zugänglich macht. Als Doktorandin durfte ich Ende der 90er Jahre bei der Korrekturlektüre einer solchen Übersetzung helfen, und ich war fassungslos, nicht zuletzt deshalb, weil ich bis dahin nichts davon wusste, weil ich mir von der Brutalität und der Systematik der Morde keine Vorstellung gemacht hatte.

In diesem Land, das sich seiner Vergangenheitsbewältigung nicht selten so sehr rühmt, dass es die Grenze zur Selbstgerechtigkeit weit überschreitet, ist der Völkermord an den Armeniern, Syrern und Griechen kein Thema der historischen Forschung. Deshalb haben interessierte Kollegen, die das Problem im akademischen Unterricht behandelt wollten, viel zu wenig Material zur Verfügung. Zum Völkermord an den Armeniern von 1915, geschweige denn zum Völkermord an den Aramäern und Assyrern, gibt es keine großen Projekte der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die Deutschen Historikertage, wissenschaftliche Kongresse europaweiter Bedeutung, haben diesen Gegenstand so gut wie nicht behandelt. Im Vergleich zu anderen Jahrestagen gibt es in diesem Jahr viel zu wenige Kongresse zu diesem Thema. Das hat mehrere Gründe.

Zwar wird seit 500 Jahren an theologischen Fakultäten und in der Philologie die Geschichte der syrischen Kirchen und die aramäische Literatur erforscht. Aber niemals hat sich bisher die säkulare Geschichtswissenschaft diesem Bereich geöffnet. Noch immer ist „Christentum“ in Deutschland eine Chiffre für Europa und den Westen. Deutsche Historiker schreiben also viel über die Geschichte „des Christentums“ und haben dazu historische Modelle gebildet. Aber diese Modelle sind wissenschaftlich nicht tragfähig, weil sie die Mehrzahl der christlichen Traditionen nicht berücksichtigen.

Man sollte annehmen, dass das, wovon wir nichts wissen, uns Wissenschaftler magisch anziehen müsste. Aber das ist in diesem Fall wenig zu erkennen. Stattdessen habe ich von meinen Kollegen in den letzten Jahren viel Halbwissen und fehlende Empathie gehört. Und ich habe Kollegen gehört, die ihr Verhältnis zur Türkei durch diese Thematik nicht in Gefahr bringen wollten.

Die deutschen Historiker schließen sich, von wenigen Ausnahmen (wie meinem Konstanzer Kollegen Professor Boris Barth) abgesehen, fast geschlossen der verschleiernden Begrifflichkeit der Regierungen der Bundesrepublik an. Außenminister Dr. Steinmeier behandelte in einem Interview noch vor wenigen Wochen diejenigen, die die Anerkennung des Völkermordes fordern, wie lästige Querulanten, die die Versöhnung zwischen Türken und den Verfolgten des Völkermords stören und womöglich die Einmaligkeit des Holocaust leugnen wollten. Aus der Historikerschaft hat kein Spezialist gegen diesen Unfug protestiert.

Eine Versöhnung kann es nur geben, wenn die Täter das Unrecht einräumen. Das Verbrechen war, um es noch einmal zu sagen, nicht ungeregelte Massaker, wie sie in Kriegen vorkommen, – die gab es auch, denn Massaker tragen sich in Machtvakua und bei unklaren Kommandostrukturen eben zu. Aber das Verbrechen, dessen wir heute gedenken, war etwas ganz anderes, es war der gezielte und von der Zentrale gewollte Versuch, alles, was nicht türkisch und/oder muslimisch war, aus der Türkei zu vertilgen, durch Vertreibung und Mord, weil es als Hindernis auf dem Weg zur nationalen Einheit betrachtet wurde.

Über diese Tatsache bestand bei den deutschen Zeugen im Ersten Weltkrieg, bei Diplomaten, Offizieren, Geschäftsleuten und Missionaren, überhaupt kein Zweifel. Wir finden zahlreiche sprachliche Wendungen in den deutschen Berichten von damals, die in unerträglicher Klarheit mit zeitgenössischen Worten das benennen, was wir seit der Völkermordkonvention der UNO von 1948 als Genozid bezeichnen. Der deutsche Botschafter Hans von Wangenheim sagte im Juli 1915, dass die türkische Regierung „tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten“.

Nach 100 Jahren deutschen Schweigens und Wegschauens, nicht zuletzt der Historiker, haben wir heute nicht das Recht, in paternalistischer Weise die Türken, Regierung wie Volk, zu belehren. Schon gar nicht sind wir befugt, Armeniern, Aramäern, Assyrern und Griechen das Versöhnen zu befehlen. Das ist so obszön, dass man sich dafür nur schämen kann.

Nach 100 Jahren Schweigen müssen wir als erstes die Mitwisserschaft an der Vernichtung von Armeniern, Aramäern, Assyrern und Griechen im vollen Sinn des Wortes anerkennen. Um unter keinen Umständen die deutschen Kriegsziele zu gefährden, wurde die diplomatische Konfrontation gemieden. Islamischer religiöser Fanatismus wurde gezielt für die eigenen deutschen Kriegsziele geschürt. Es wurde eine bewusste, in Kommissionen und Berichten reich dokumentierte, unterlassene Hilfeleistung begangen. Nicht selten wurde eine fahrlässige Tötung durch Unterlassen daraus. Indem man Argumente bereitlegte, wurden noch während des Krieges Vorkehrungen dafür zu treffen gesucht, dass daraus nicht im Nachhinein jemand den Deutschen einen Vorwurf machen könnte. Nicht zuletzt daraus sieht man, wie sehr den Deutschen bewusst war, was sie taten und was sie sahen.

Natürlich sehen wir Parallelen zur Gegenwart, wo deutsche politische Bündnisse und wirtschaftliche Interessen wiederum zu fahrlässigen Tötungen durch Unterlassen führen. Den Morden, Versklavungen und Verwüstungen des IS schaut die Regierung zu. Die politische Haltung im syrischen Bürgerkrieg und die militärischen Bündnisse verhindern jede effiziente Aktion und damit auch jede effiziente Hilfe. Dagegen werden weiter Waffen an Saudi Arabien geliefert. Als Vertreter allgemeiner Menschenrechte erweisen wir uns täglich als unglaubwürdig.

Ich fordere Bundeskanzlerin Dr. Merkel und Außenminister Dr. Steinmeier dazu auf, eine Historikerkommission mit der Aufarbeitung des deutschen Wissens und des deutschen Unterlassens über den Genozid zu beauftragen. Ich fordere die deutschen Historiker dazu auf, ihrer Verantwortung für eine wissenschaftliche Begleitung der Diskussionen in Deutschland nachzukommen, indem sie als Gutachter Projekte aktiv fördern, indem sie die Ereignisse untersuchen, erklären, als eine radikale Gewalterfahrung der Moderne in unsere Geschichtsmodelle integrieren.

Ich wünsche mir, dass dieser Gedenktag ein Wendepunkt der Geschichte von Deutschen, Türken und Opfern des Genozids wird, an dem das deutsche Schweigen aufgebrochen wird und an dem eine neue Diskussion über die deutsche Orientpolitik in Vergangenheit und Gegenwart beginnt. Ich danke allen Organisatoren und allen Mitwirkenden und natürlich Ihnen allen für Ihr Kommen.