Am 2. Juni (15. Juni julianischen Kalenders) 2015 fand in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche die Feier zum zentralen Gedenktag statt. Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wurde im zweiten Weltkrieg Opfer der Luftangriffe und wurde als Wunde in der Großstadt in ihrem zerstörten Zustand belassen. Das dazugehörige moderne Kirchengebäude wurde in die Ruine architektonisch integriert und steht als Mahnmal für einen Frieden und eine Versöhnung, die die Leiden nicht vergisst, sondern aufarbeitet. Dieser Ort der Erinnerung aus der wilhelminischen Zeit war ein angemessener Ort, um den Gedenktag feierlich zu begehen.

Für die musikalische Begleitung des Gedenktags bearbeitete der Komponist Andranik Fatalov ausgewählte syrische Kirchenlieder für ein Streichquartett. Die Werke, die die Stiftung für Aramäische Studien für den Gedenktag in Auftrag gegeben hat, entstanden auf der Grundlage einer Rekonstruktion aramäischer Melodien der Spätantike aus dem Kirchengesangsbuch beth gazo (Schatz der Lieder). Die musikalische Rahmung gab der Veranstaltung in dem architektonischen und akustischen Umfeld der Gedächtniskirche die Würde, die dem Gedenken an die Opfer und ihren Nachfahren zukommt.

Zu Beginn begrüßte der Gastgeber Pfr. Martin Germer die über 300 Anwesenden im Namen der evangelischen Gemeinde der Gedächtniskirche. Er wies auf die Bedeutung der Kirche als ökumenische und interreligiöse Begegnungsstätte hin. Daraufhin begrüßte Josef Kaya, der Vorstandvorsitzende der Stiftung für Aramäische Studien, die versammelten Gäste im Namen der Stiftung, der Initiatorin und Organisatorin der Forschungsstelle für Aramäische Studien. Er wies auf die aktuelle Bewertung des Völkermordes in der deutschen Politik hin und kritisierte die absurde Argumentation der Bundesregierung, dass die Aufarbeitung des Völkermordes Aufgabe der türkischen und armenischen Nationalstaaten sei. Die Aramäer, die keinen Nationalstaat besaßen, würden so zum Schweigen verdammt. Auch zitierte er den Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland Joachim Gauck, der auf die Verantwortung Deutschlands in dieser Angelegenheit hinwies. Kaya unterstrich außerdem die Bedeutung eines eigenen Gedenktages für die Aramäer (Ost- und Westsyrer). Erstmals würde dieser Gedenktag 100 Jahre nach dem Völkermord begangen, was insbesondere an der neuen Situation in der Diaspora liege. Erst hier sei ein öffentliches Gedenken möglich geworden. Die Ereignisse könnten so endlich einen überfälligen eigenen Platz in der Gedenkkultur des europäischen Raumes finden.

Prof. Dr. Dorothea Weltecke, die Leiterin der Forschungsstelle für Aramäische Studien an der Universität Konstanz, sprach im Anschluss. Sie kritisierte die Bundesregierungen, die die Anerkennung des Völkermordes verweigerten und Bundesaußenminister Dr. Steinmeier, der Befürworter der Anerkennung wie Querulanten behandle. Sie beanstandete darüber hinaus die wissenschaftliche Untätigkeit der deutschen Historiker, die den Völkermord von 1915, wie die Geschichte der orientalischen Christen überhaupt, weithin ignorieren. Dies sei umso skandalöser, da Deutschland von den systematischen Morden und ihrem Ziel, der Auslöschung der ansässigen Christen, gewusst und sie um seiner politischen und militärischen Ziele halber hingenommen habe. Sie forderte die Bundesregierung auf, eine Historikerkommission einzusetzen, um die Kenntnisse und die Aktionen des Deutschen Reiches in den Ereignissen zu untersuchen.

Die Festrede hielt der renommierte Autor und Publizist Prof. Dr. Micha Brumlik. Auch er bezeichnete die Haltung der Bundesregierung gegenüber dem Genozid und besonders an der aramäischen Bevölkerung als skandalös. Die Charakterisierung der Ereignisse im Osmanischen Reich als Völkermord sei eine wissenschaftlich eindeutig belegbare Tatsache, sowohl was die Intention als auch die Durchführung angehe, auch wenn noch einige Wissenschaftler der Türkei dies bestritten. Er erinnerte an Rafael Lemkin, den Autor der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des

Völkermordes, der den juristischen Begriff des Völkermordes anhand der Ereignisse im Osmanischen Reich erarbeitete, wie auch daran, dass Hitler den Völkermord an den Armeniern im Zusammenhang mit der Planung eines Genozids an der polnischen Bevölkerung erwähnte.

Nach einem zweiten musikalischen Intermezzo durch das Streichquartett rezitierte die Schauspielerin Anne Osterloh einen Erlebnisbericht einer hochschwangeren Überlebenden des Sayfo, Saro dbe Bënno, die während eines Überfalls entführt wurde und mit Glück vor einer erzwungenen Ehe nach Hause fliehen konnte.

Schließlich sprach der Erzbischof der syrisch-orthodoxen Kirche in Deutschland Mor Philoxenus Matthias Nayish ein kurzes Gebet für die Seelen der Verstorbenen, auf das die Versammelten mit einem gesungenen Vaterunser auf aramäisch antworteten. Der Chor der syrisch-orthodoxen Gemeinde Mor Jakob unter der Leitung des Priesters Murat Üzel begleitete Seine Eminenz bei der Andacht. Zuvor sprach der Erzbischof auf aramäisch zu den Anwesenden. Er betonte die lange Leidensgeschichte des aramäischen Volkes, die dieses mit dem Leiden Christi verbinde. Das Leiden im Sayfo bezeichnete er daher als heilig (aram. „qadišo).

Der Gedenktag wurde mit der dritten musikalischen Einheit feierlich abgeschlossen. Vom Streichquartett begleitet, sang die aramäische Sängerin Maria Kaplan mit ihrer ausdrucksstarken Stimme die Märtyrer-Hymne „Aḵ tagore kašire“ des großen syrischen Schriftstellers Rabbula von Nisibis.