Tagung

„Der Genozid an der aramäischsprachigen Gemeinschaft (Syrische Christen) im Osmanischen Reich sowie im osmanisch besetzten Iran (1914–1918)“

Die Tagung begann im Festsaal der Humboldt-Universität zu Berlin. Der Gastgeber der Veranstaltung, Prof. Dr. Heinz Ohme, begrüßte die Referenten und Gäste im Namen der Theologischen Fakultät. Er betonte die Bedeutung einer wissenschaftlichen Aufarbeitung dieses Genozids, der in der Öffentlichkeit nur wenig bekannt sei und im Schatten des Armenier-Genozids kaum Beachtung finde. In eben diesem Sinne wies Prof. Dr. Dorothea Weltecke, Leiterin der Forschungsstelle für Aramäische Studien der Universität Konstanz, in ihrer Begrüßung auf die vielen Desiderate in der Erforschung des Sayfo hin. Auch hob sie die besondere Verantwortung Deutschlands in der wissenschaftlichen und politischen Aufarbeitung der Ereignisse hervor, da sich Deutschland als Kriegsverbündeter des Osmanischen Reichs zumindest zum Mitwisser der Taten gemacht habe.

Entsprechend beschäftigte sich das erste Panel der Veranstaltung, „Die deutschen Orientmissionen, der Genozid und die Politik“, mit den deutschen Missionen und ihrer Rolle vor Ort sowie ihrer Einflussnahme auf die Politik in Deutschland. Pfr. Volker Metzler eröffnete dieses Panel mit seinem Vortrag „Mission M/macht Politik: Die OIK und ihre Einflussarbeit hinsichtlich der armenischen Frage 1918“. Er beschrieb die Haltung der deutschen Missionswerke gegenüber der osmanischen Genozidpolitik. Metzler wies darauf hin, dass diese Haltung vor allem von der Wahrung der deutschen Kriegsinteressen geleitet war, denen das Schicksal der Christen, d.h. der Armenier, der aramäischsprachigen Gemeinschaften und der Griechen, untergeordnet worden sei. Auch wenn – vor allem vor Ort – den Christen geholfen worden sei, so doch nur so weit, dass der Kriegspartner, das Osmanische Reich, nicht brüskiert wurde.

Im nächsten Vortrag, „Die Stationen der deutschen Orientmission im Sayfo“, wandte sich Prof. Dr. Martin Tamcke den Missionswerken vor Ort zu. Er konzentrierte sich auf die Zeugnisse aus einem Krankenhaus in Urfa, dem Missionswerk in Diyarbakir und schließlich auf die Arbeit von syrisch-evangelischen Priestern in Urmia. Er stellte aus diesen Zeugnissen viele beredte Beispiele über die Situation der syrischen Christen vor Ort zusammen.

Die nächste Sektion fand in der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität statt. Die Teilnehmer zogen bei sonnigem Wetter entlang der Spree und der Museumsinsel vom Festsaal der Humboldt-Universität zur Theologischen Fakultät. Dort wurde die Tagung mit dem Panel „Die Politik des Genozids“ fortgesetzt, in dem sich die Referenten mit dem historischen Hintergrund des Genozids beschäftigten. Zwei Fragen standen im Vordergrund: „Welche Entwicklungen im Osmanischen Reich liefen auf den Genozid zu?“, und zweitens: „In welchem Verhältnis steht der Völkermord an den Aramäern zu dem Völkermord an den anderen christlichen Gruppen, d.h. Armeniern und Griechen?“

Frau Dr. Tessa Hofmann diskutierte in ihrem Vortrag „Der Genozid an den Christen des Osmanischen Reiches: Gemeinsamkeiten, Varianzen und methodische Überlegungen“ verschiedene Ansatzpunkte der Forschung über den Genozid im Osmanischen Reich. Sie erörterte die These, die den Genozid allein im Kontext der Nationalstaatsbildung der Türkei erklärt, und kritisierte, dass dabei religiöse Beweggründe ausgeklammert würden. Im Gegensatz dazu sei jedoch von Anfang an eine Verfolgung der indigenen christlichen Bevölkerung geplant gewesen, die als innerer Feind gesehen worden sei. Die Frage, ob der Völkermord an der aramäischsprachigen Gemeinschaft nur ein Nebeneffekt des Genozids an den Armeniern gewesen sei, verneint Dr. Hofmann daher mit Verweis auf Quellen, die die Intention zur Vernichtung der christlichen Bevölkerung belegen.

Im nächsten Vortrag, „Die Nationalitätenpolitik der jungtürkischen Bewegung“, ging Prof. Dr. Boris Barth zunächst auf die Herkunft der Ideen der jungtürkischen Bewegung ein. Die jungtürkische Elite sei in Europa mit den Ideen des Liberalismus und Nationalismus in Berührung gekommen und habe versucht, diese Konzepte auf die Türkei zu übertragen. Doch aus der Imitation sei vor allem ein türkischer Nationalismus, der sich zu einem Pan-Turanismus entwickelt habe, geworden. Dieser habe im Gegensatz zum späten Osmanismus gestanden, der die Gleichberechtigung der gesamten osmanischen Bevölkerung ohne Berücksichtigung der Herkunft vorgesehen habe. Im zweiten Teil seines Vortrages versuchte Barth, den türkischen Nationalismus im Kontext der aktuellen Nationalismusforschung zu betrachten. Er stellte die Frage, inwieweit Modelle, die für die wissenschaftliche Untersuchung nationaler Bewegungen im europäischen Raum entwickelt wurden, auch auf die Geschichte des Osmanischen Reichs übertragen werden können. Barth bejahte dies und führte Beispiele an, die eine komparatistische Herangehensweise ermöglichen und die historische Entwicklung, an deren Ende der Genozid im Osmanischen Reich steht, beleuchten könnten.

Ein weiteres Desiderat der Erforschung des Genozids an den Aramäern ist die Sicherung und Untersuchung der vorhandenen Quellen. Insbesondere die Augenzeugenberichte müssen der wissenschaftlichen Fachwelt zugänglich gemacht werden, z.B. durch Übersetzungen. Die Übersetzungen zweier Augenzeugenberichte werden im Augenblick fertig gestellt und könnten unsere Erkenntnisse über die Ereignisse vertiefen. Diese Werke vorzustellen war das Ziel des nächsten Panels „Die Augenzeugenberichte“.

Amill Gorgis stellte den an der Forschungsstelle für Aramäische Studien übersetzten Augenzeugenbericht „Das höchste Ausmaß der Katastrophen in Mardin und Umgebung“ des syrisch-katholischen Bischofs Ishoq Bar Armalto vor. Dabei legte Gorgis seinen Schwerpunkt nicht auf die Ereignisgeschichte des Sayfo, sondern umriss die im Buch beschriebene Vorgeschichte. So sei Bar-Armalto bereits durch die Pogrome und Massaker der Jahre 1894/95, die er als junger Mann erlebte, traumatisiert gewesen, als er den Sayfo erlebte. Des Weiteren hob Gorgis die bemerkenswerten Beobachtungen Armaltos über die Rolle des deutschen Reiches bei den Ereignissen hervor.

In seinem Vortrag „The Syriac ‘Book of the Armenian and Aramean Christians‘ Persecutions of 1915 in Mardin, Dayarbakir, Siirt, Cizre, Hakkari and Nusaybin‘ by Israel Odo, Chaldean Bishop of Mardin 1910–1941“ stellte Dr. Andrew Palmer einen weiteren im Westen fast unbekannten Zeugenbericht vor. Palmer legte einen besonderen Schwerpunkt auf die im Buch beschriebene Rolle der syrisch-orthodoxen Gemeinschaft, die der Autor äußerst negativ bewertet. Dieser wirft den syrisch-orthodoxen Christen vor, sie hätten andere aramäische Gemeinschaften als Verräter diffamiert, um sich selbst zu retten. Zwar weist Palmer auf die verbitterte Haltung von Odo hin, der jegliches Gerücht über syrisch-orthodoxe Untaten aufnehme, doch vermutet Palmer hinter dieser Verbitterung einen wahren Kern. Palmer appellierte daher an die Mitglieder gerade der syrisch-orthodoxen Gemeinde, sich kritisch mit diesem Buch und mit der Vergangenheit der eigenen Konfession zu beschäftigen.

Der große Abendvortrag wurde von Prof. Dr. Mihran Dabag bestritten und führte zurück in das Panel „Die Politik des Genozids“. Dabag ging in seinem Vortrag „Identität und Gewalt. Überlegung zur Struktur und Geschichte eines Wissens von politischer Ordnung im Nahen Osten“ in strukturanalytischer Weise vor, um den Rahmen zu beschreiben, in dem der Völkermord stattfand. Er findet ein wertvolles Modell in dem von Eric Voegelin entwickelten Begriff des Ordnungswissens. Dieses Modell könne die Unvereinbarkeit der westlichen Konzeptionen des Parlamentarismus und Konstitutionalismus mit den muslimisch-orientalischen Konzeptionen, die die Gesellschaft in Muslime und Nicht-Muslime einteilten, zeigen. Da „Gleichheit nur für die Gleichen“ da sei, also die westlichen demokratischen Modelle grundsätzlich eine rechtliche Gleichheit aller Menschen vorsahen, verstoße das westliche Modell, das vor allem bei der nicht-muslimischen Bevölkerung begrüßt worden sei, bei den Muslimen auf Widerstand. Scheitelpunkt dieser Entwicklung sei der Genozid gewesen, in der die Aporie dieses Systems gelöst werden sollte: Wer nicht integrierbar ist, wird vernichtet. Von dort aus ging Dabag auf die aktuelle Situation im Nahen Osten ein: Auch der politische Islamismus sei aus der Übernahme des westlichen Nationalismus entstanden, jedoch mit der Modifikation, dass allein die Religionszugehörigkeit über die Mitgliedschaft zur Nation, in diesem Fall der Umma, entscheide.

Am folgenden Tag gingen die Referenten auf das Verhältnis der Kurden zu den Christen ein. Augenzeugenberichte zeigen, dass die kurdische Bevölkerung eine wichtige Rolle in der Umsetzung der genozidalen Politik der jungtürkischen Bewegung spielte. Da sich das Verbreitungsgebiet der kurdischen und der aramäischen Bevölkerung überschneidet, sollte das nächste Panel, „Der kurdische Faktor“, Licht in das Verhältnis von Kurden und Aramäern vor dem Genozid und während des Genozids bringen.

In seinem Vortrag „Im Spannungsfeld von ausländischen Einflüssen, den Interessen der Kurden und der Politik der osmanischen Regierung – Die ostsyrischen Christen im 19. und frühen 20. Jh.“ stellte Joachim Jakob, M.A. das Verhältnis der Kurden zu der ostsyrischen Bevölkerung in der Hakkari-Region vor. Zu Beginn des 19. Jh. seien die christliche und die kurdische Bevölkerung in einem Stammessystem miteinander verbunden gewesen, in welchem der religiöse Aspekt nur eine untergeordnete Rolle gespielt habe. Dies habe sich geändert, als mit der Tanzimat-Politik des Osmanischen Reichs ein Machtkampf zwischen regierungstreuen und -feindlichen Gruppen ausgebrochen sei. Zu Beginn seien auf beiden Seiten Christen vertreten gewesen, doch nach der Entstehung eines regierungsfeindlichen kurdischen Bündnisses seien die Christen zunehmend als Verbündete ausländischer Kräfte wahrgenommen worden - unter anderem aufgrund der Arbeit der Missionare - und somit letztlich als Verbündete der osmanischen Regierung. Diese Entwicklung habe 1843 einen traurigen Höhepunkt gefunden, als in einem Massaker zehntausende ostsyrische Christen ermordet wurden. Die Spannungen zwischen der ostsyrischen und der kurdischen Bevölkerung in der Hakkari-Region seien auch danach ein bestimmender Faktor in der Region gewesen. Jakob sieht in diesen Spannungen einen Aspekt, der die Gräuel des Völkermords 1915 möglich gemacht habe.

Im Anschluss daran betrachtete Prof. Dr. Shabo Talay in seinem Vortrag „Die Rolle der kurdischen Stämme bei der Vernichtung der Christen im Turabdin, 1915-1923“ das Zusammenleben der kurdischen Stämme mit den westsyrischen Christen. Ähnlich wie in der Hakkari-Region seien Christen und Kurden in einem Stammessystem verbunden gewesen. Zu Beginn des 20. Jh. habe die osmanische Regierung einen dieser Stammesverbände unterstützt und so das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Stämmen gestört. Da sie die regierungskritische Seite zusätzlich geschwächt habe, hätten deren Führer später als potentielle Schutzmächte der Christen gefehlt. Indem die Zentrale politische Führer entmachtete, seien religiöse Institutionen gestärkt worden. So enstand im Tur Abdin eine christenfeindliche Struktur, auch wenn es kurdische Stämme und Personen gegeben habe, die sich schützend vor die verfolgte Christen stellten.

Den Abschluss der Veranstaltung bildete das Panel „Die Folgen des Genozids für die aramäischsprachige Gemeinschaft“, in welchem der Umgang der einzelnen syrischen Kirchen mit den Ereignissen beleuchtet werden sollte.

S. E. Mor Polykarpos Evgin Aydin erörterte in seinem Vortrag „Coming to Terms with the Genocide: Theological and Liturgical Reactions of the Syriac-Orthodox Church“ die Frage, wie die syrisch-orthodoxe Kirche die Ereignisse in ihrer liturgischen Tradition aufarbeitete. Die Interpretationen und Bearbeitungen fußten auf den biblischen Schriften. Aydin ordnete sie einer alttestamentlichen und der neutestamentlichen Perspektive zu: Erstere habe die Ereignisse in moraltheologischer Argumentation als göttliche Strafe gesehen, letztere als Erfüllung der Prophezeiung Jesu: „Ihr werdet gehasst werden um meines Namens willen.“ Oftmals seien auch beide Perspektiven verbunden und eschatologisch gedeutet worden. Die Botschaft der kirchlichen Leitung habe also besagt, dass die Gläubigen durch die Leiden zur Freiheit geführt werden würden, also ein reinigender und erlösender Aspekt in ihrem Martyrium zu finden sei.

Leider musste der Vortrag von Mar Odisho Oraham, Bischof der Heiligen Apostolischen und Katholischen Assyrischen Kirche des Ostens, der dasselbe Thema aus der Perspektive der Kirche des Ostens beleuchten wollte, entfallen, da der Bischof in Erbil bei einer Synode den Nachfolger des kürzlich verstorbenen Katholikos-Patriarchen bestimmen sollte.

Durch dieses Programm konnte die Tagung verschiedene Themen zusammenführen, die für die Erforschung des Genozids an der aramäischsprachigen Gemeinschaft von höchster Bedeutung sind, und einen wichtigen Beitrag zu der Erforschung des Genozids leisten. Die Erkenntnisse der Tagung sollen zudem veröffentlicht werden.