Prof. Dorothea Weltecke im Interview mit der Nachrichtenagentur Evangelischer Pressedienst (epd) zur Eröffnung der Forschungsstelle für Aramäische Studien, veröffentlicht am 28. August 2013 in LD Südwest. Das Gespräch führte Ralf Schick.

Ralf Schick: Frau Weltecke, Sie leiten seit dem Sommersemester die Forschungsstelle für Aramäische Studien in Ihrem Arbeitsbereich Geschichte und Soziologie. Warum ist die Forschungsstelle dort angesiedelt worden?

Dorothea Weltecke: Dafür gab es unterschiedliche Gründe und persönliche Bekanntschaften. Ich freue mich sehr über das Vertrauen der Stiftung für Aramäische Studien in uns, die hier die Arbeit finanziell tragen. Ich selbst interessiere mich seit meiner Studienzeit für diesen Bereich und habe im Rahmen der mittelalterlichen Geschichte dazu geforscht. Auch drei meiner Doktoranden und einige meiner Studenten bewegen sich auf dem Gebiet der christlichen Orientalistik. Die Universität Konstanz schließlich unterstützt mit der Institutionalisierung der Forschungsstelle einen Bereich, der sich gut zu unserem Exzellenkluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ fügt. Damit hat sie eine bisher in Deutschland einzigartige Konstruktion geschaffen. Denn dieses Fachgebiet ist traditionellerweise, wo es noch vorhanden ist, in orientalistischen Fächern oder in der Theologie angesiedelt.

Schick: Was genau ist das Ziel dieser neuen Forschungsstelle?

Weltecke: Die Forschungsstelle wird, im Austausch mit Fachkollegen andernorts, Grundlagenforschung zu den Christen in den Kirchen der syrischen Tradition leisten (das sind die syrisch-orthodoxe Kirche, die Assyrische Kirche des Ostens und chaldäische Kirche u.a.). Doktoranden werden dazu selbständig eigene Projekte entwickeln. Besonders dringlich sind aus unserer Sicht Forschungen zur Diasporasituation, zur Lage in den Ländern des Vorderen Orients, in denen Christen leben (v.a. Türkei, Syrien, Irak, Iran, Israel), zum Zusammenleben unterschiedlicher Religionen und ethnischen Gruppen dort und hier. Auch zur Kultur- und Sozialgeschichte in den spätantiken und mittelalterlichen Städten und Regionen gibt es noch viel zu tun. Im Vergleich z.B. zu westlichen mittelalterlichen Gesellschaften wissen wir fast nichts über die Christen in Asien.

Aber es geht nicht nur um die Förderung der Aramäischen Studien, sondern für mich ganz wesentlich um die deutsche Forschung, deren Perspektiven ich ändern und öffnen möchte. Für die Welt des Christentums wie für die Welt des Islam ist die aramäische Tradition eine der tiefsten und wichtigsten Wurzeln. Um dies wissenschaftlich zu integrieren brauchen wir tatsächlich radikal neue historische Modelle.

Schick: Wurde die Aramäische Geschichte bislang eher zu wenig beachtet?

Weltecke: Das kann man wohl sagen! Zwar gibt es in Deutschland seit mehreren hundert Jahren eine international angesehene Philologie, die sich mit diesem Bereich beschäftigt und die Aramäische Sprache bzw. das Klassische Syrisch der Christen und ihre Literatur untersucht. Und auch an den theologischen Fakultäten hat dieser Bereich eine Tradition, die bis ins Mittelalter zurückgeht. Doch die allgemeine Geschichtswissenschaft und die Soziologie haben seit ihrer Entstehung als wissenschaftliche Fächer orientalische Christen überhaupt noch nie als Forschungsgegenstand wahrgenommen. Hier sehe ich eine wichtige Chance für Konstanz und auch für diese Disziplinen allgemein, neue Perspektiven zu entwickeln, die vor allem dazu beitragen werden, unsere eigenen Kulturen und unsere Geschichte besser zu verstehen. Abgesehen davon ist der gesamte Bereich der säkularen Geschichte der orientalischen Christen, ihre weltlichen Institutionen und ihre weltliche Kultur bisher kaum in den Blick gekommen, weil diese nicht zu den Zielgebieten der Philologie und der Theologie gehörten.

Schick: In den vergangenen Jahren wurden die islamwissenschaftichen Studien ausgebaut. Ist das nicht eine Art Konkurrenz zur Geschichte der christlichen Minderheiten, zur christlichen Orientalistik?

Weltecke: Zugleich mit dem Ausbau der islamwissenschaftlichen Studien wurden und werden in Deutschland die letzten Lehrstühle für die Erforschung des Christenlichen Orients geschlossen. Man kann sagen, dass die deutsche christliche Orientalistik, wie sie seit etwa 1900 institutionalisiert war, vor dem Aus steht. Die Spezialisten in Deutschland warnen und klagen seit Jahren. Aber das war genau so gewollt.

Ich will die beiden Bereiche trotzdem nicht gegeneinander ausspielen, zumal die neuen islamwissenschaftlichen Lehrstühle auf neue, wichtige Bedürfnisse der Gegenwart antworten. Auch über islamische Kulturen wissen wir zweifellos zu wenig. Nur brauchen wir eine Wissenschaft, die die religiöse Vielfalt des Vorderen Orients und Nordafrikas – ebenso wie die Vielfalt Europas – im Blick behält und die islamischen Kulturen dieser Regionen in dieser Vielfalt versteht. Jüdische, christliche und andere religiöse Gruppen, viele Ethnien und Sprachen neben den klassischen Sprachen des Islam gehörten und gehören dazu, machen sie genauso aus, sind genauso wichtig für ihr Verständnis. Davon sehe ich auch in der neuen Islamwissenschaft zu wenig. Sie zementiert eher die traditionelle Perspektive, die dazu neigt, die Vielfalt auszublenden.

Das hat natürlich auch Gründe, für die sie nicht verantwortlich ist, wie die Aufgliederung der Erforschung Eurasiens in viele Spezialdispziplinen und die schlechte personale Ausstattung der Islamwissenschaft. Gemeinhin ist eine, vielleicht zwei Professuren verantwortlich für Literatur, Kultur, Kunst, Geschichte und Soziologie von 1500 Jahren. Sie stehen der geballten Masse der übrigen Historiker, Soziologen, Politik- und Literaturwissenschaftler gegenüber, die ihnen die Beschäftigung mit dieser Welt komplett überlassen, weil deren Sprachen nicht zum europäischen Bildungskanon gehören. Das kann nicht gut sein.

Schick: Die Geschichte der Christen in der arabischen Welt ist in der Gesellschaft nicht so bekannt, woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Weltecke: Das ist eine direkte Folge der Aufgliederung der Erforschung Eurasiens, von der ich eben sprach. Natürlich gab es traditionsreiche Lehrstühle in Theologie und Orientalistik. Aber ihre Außenwirkung beschränkte sich zumeist auf den Kreis der Spezialisten. Auf die Entwicklung der anderen Dispziplinen hatten deren Forschungen aber überhaupt keine Wirkung! Sie wurden einfach nicht rezipiert. Nie hat z. B. die Geschichtswissenschaft Modelle entwickelt, die der Tatsache Rechnung tragen, dass das europäische Christentum nur ein kleiner Ausschnitt der weltweiten christlichen Tradition ist. Sie hat keine Modelle für die Tatsache, dass die islamische Welt religiös, sprachlich und kulturell bunt ist, ebenso wie es auch Europa, von Episoden abgesehen, immer gewesen ist.

Und das hat natürlich Folgen für unser öffentliches Geschichtsbild, für die Geschichtslehrer, die wir ausbilden und für die Vorstellungen von der Welt, die wir an die Schulen weitergeben. „Christlich-jüdische Tradition“ ist in Deutschland eine allgegenwärtige Chiffre für europäische Traditionen. Was für ein Unsinn! Mir stehen regelmäßig die Haare zu Berge, wenn ich das höre. Die Folgen davon können wir täglich im Umgang der westlichen Länder mit dem Vorderen Orient und den gerade auch für die Christen bedrohlichen Konflikten beobachten. Die Christen und die anderen Religionen und Sprachen dort stehen nicht auf unserer Rechnung, die religiöse Vielfalt hier bei uns erscheint uns neu und bedrohlich. Dass dies endlich anders wird, dafür wollen wir in Konstanz etwas tun.

Schick: Vielen Dank für das Gespräch.